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ANTIQUARIAT/006: "Die Geheimnisvollen Städte" von Schuiten und Peeters


François Schuiten, Benoît Peeters

Die Geheimnisvollen Städte (7)

"Mary"



Es gibt immer wieder Comics, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen und die man gerne weiterempfiehlt. Um einen solchen handelt es sich bei "Mary":

Das 1999 erschienene Album ist der siebte Band des Zyklus "Die Geheimnisvollen Städte" von François Schuiten und Benoît Peeters. Ein Schwergewicht liegt - sehr ungewöhnlich für Comics - auf der Architektur, die die beiden Belgier in ihren Geschichten "als Ausdruck für gesellschaftliche Verhältnisse" einsetzen, wie sie sagen. "Die Geheimnisvollen Städte" spielen in rätselhaften Paralleluniversen; sie entführen den Leser an geheimnisvolle Schauplätze in diesen fremden Welten, deren Kulturen sich immer um die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts befinden, in einem Stadium des Umbruchs, an der Grenze zu einem neuen Zeitalter. In der in mehreren, episodenartig eingeblendeten Erzählebenen spielenden Geschichte "Mary" findet nun erstmals eine Berührung dieser fremden Welten mit der Realität statt.

In der Stadt Alaxis nimmt die Erzählung ihren Ausgang: Mary und ihre Familie, die sich auf einer Urlaubsreise befinden, machen einen Abstecher zum Vergnügungspark, wo sie in den "Star Express", eine Art Achterbahn, einsteigen. Hier hat die Familie ein fantastisches Erlebnis. Was anfangs noch wie eine besonders aufwendig gestaltete Jahrmarktstattraktion wirkt, verwandelt sich im Laufe der Fahrt in eine völlig fremdartige Umgebung von unbekannten Dimensionen. Während sich der Rest der Familie vor Furcht in die Sitze verkriecht, genießt Mary als einzige das seltsame Erlebnis in vollen Zügen.

Nach einer geraumen Zeit beginnt die Umgebung sich wieder zu normalisieren und schließlich landet man am Ausgangsort, wo die Familie mit wackeligen Knien aussteigt. Doch irgendetwas scheint mit Mary passiert zu sein, sie fällt mehrere Male hin, bis sie sich schließlich in eine merkwürdige Schräglage begibt, in der sie sich halten kann. Von nun an ist sie "schief", was dem Mädchen, das mit seiner ungebärdigen Natur ohnehin schon überall aneckte, einen Haufen neuer Probleme bereitet. Niemand kann sich den Grund für ihren merkwürdig schrägen Stand erklären, manche halten es schlicht für einen Scherz. Doch daß mehr dahinterstecken muß, ist von Anfang an klar.

Mary wird in ein Pensionat geschickt, wo man sie so sehr ärgert und piesackt, daß sie schließlich wegläuft. Überall verhöhnt und unverstanden landet sie schon fast in der Gosse, bis sie schließlich bei einer kleinen Freak-Show Unterschlupf findet. Hier arbeitet sie als Seiltänzerin, wo ein begeistertes Publikum ihre Schräglage als artistisches Können auslegt ...

Dies ist einer der Erzählstränge von "Mary". Ein weiterer spielt ebenfalls auf dem fremden Planeten, im Sternobservatorium Mount Michelson, wo man emsig damit beschäftigt ist, einem merkwürdigen Phänomen auf die Spur zu kommen. Einer der Wissenschaftler meint, einen neuen, unsichtbaren Planeten entdeckt zu haben und plant, ein Raumschiff zu bauen, um dort hinzufliegen.

Die dritte Ebene spielt ab dem Jahr 1898 in Aubrac, einem ganz offensichtlich "realen", irdischen Ort, was dadurch verdeutlicht wird, daß diese Episoden in Fotosequenzen dargestellt sind. Der Maler Desombres widmet sich besessen seinem neuen Projekt: In einem einsam gelegenen, heruntergekommenen Herrenhaus, das er auf einem seiner Spaziergänge entdeckte und daraufhin kaufte, bemalt er die Wände mit Gemälden von Raumschiffen und merkwürdigen, kugelförmigen Sphären. Auch mit einem Porträt müht er sich ab, das selbst in seinem unfertigen Stadium erstaunlicherweise eine große Ähnlichkeit mit Mary hat.

Wie Mary den Grund ihres "Schiefseins" herausfindet und wie und unter welchen Umständen sie und Desombres zusammenkommen, soll hier aber nicht erzählt werden, denn die Geschichte lebt sehr stark davon, daß man die wesentlichen Zusammenhänge beim Lesen selbst herausfindet ...

Mit seiner bestechend guten Graphik überzeugt das Album schon auf den ersten Blick. Die schwarzweiß gehaltenen Zeichnungen von François Schuiten mit ihren kühnen, architektonischen Visionen sind eine Augenweide für sich. Er ahmt auf stimmungsvolle Weise den damals üblichen Zeichenstil nach und schafft so eine "authentische" Atmosphäre des vergangenen Jahrhunderts. Auch die Fotosequenzen fügen sich harmonisch in die Geschichte ein. Die verschachtelte Erzählung läßt mehrere Interpretationsmöglichkeiten offen, wodurch sie besonders reizvoll wird.

François Schuiten, geboren am 26.4.1956, veröffentlichte seinen ersten Comic bereits 1973 in "Pilote". Vier Jahre später folgten weitere Veröffentlichungen in "Metal Hurlant" (dem französischen Muttermagazin von "Heavy Metal" und "Schwermetall"), von wo aus sich Schuiten zu einem der innovativsten Comic-Zeichner seiner Generation entwickelte. Neben seinen Arbeiten "Aux Médianes de Cymbiola" und "Le Rail", die beide in Zusammenarbeit mit seinem Professor am Institut Saint-Luc, wo er studierte, entstanden, fand der Zyklus "Les cités obscures" - "Die geheimnisvollen Städte" besondere Beachtung.

Das 152seitige Softcoveralbum im Großformat, das bei Feest Comics herauskam, kostete bei seinem Erscheinen 39,90 DM. Des weiteren erschien eine auf 555 Exemplare beschränkte, handsignierte Vorzugsausgabe mit Hardcover (160 Seiten, 89,- DM).