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ANTIQUARIAT/004: "Dropsie Avenue" von Will Eisner


Will Eisner


Dropsie Avenue



Im Schaufenster unseres Antiquariats steht heute "Dropsie Avenue" von Will Eisner. Der 170seitige Comic, der 1999 bei Feest Comics erschien und seinerzeit 39,90 DM kostete, erzählt die Geschichte einer Straße und ihrer Bewohner in der South Bronx, New York, über 100 Jahre hinweg. Auch wenn der Zeichenstil manchem Betrachter vielleicht etwas antiquiert anmutet, sollte man sich, so man die Gelegenheit hat, einen Blick in dieses Album gönnen. Mit zeitlos aktueller Thematik gelingt es Will Eisner, einem der Altmeister dieses Mediums, der in den 40er Jahren die Comic- Zeichenkunst mit neuen gestalterischen Elementen, die den Erzähltechniken des modernen Films vorgriffen, revolutionierte, den Leser in den Bann seiner Erzählung zu ziehen.

Der umfangreiche Band besticht nicht so sehr durch opulente und aufwendig gestaltete Bilder. Die schwarzweiß gehaltenen Zeichnungen scheinen, gewissermaßen als "Mittel zum Zweck", ganz im Dienst der hier erzählten Geschichte zu stehen. Nicht umsonst spricht Eisner, der den Begriff "Graphic Novel" für längere Comic- Geschichten prägte, selbst auch davon, "ein Buch zu schreiben", wenn er von der Entstehung seines Albums spricht (siehe Zitat aus dem Vorwort).

Als Meister seines Fachs beherrscht Eisner die Kunst, mit Bildern zu erzählen, virtuos. Er pflegt einen lockeren, karikierenden Zeichenstil und hat sich weit von einer Seitenaufteilung in einzelne, deutlich voneinander abgegrenzte Panels entfernt. Die meisten seiner Seiten sind Kompositionen aus ineinander übergehenden Bildern bzw. Bildelementen. Man liest zum einen die Geschichte in den chronologisch aufeinander folgend angeordneten Einzelbildern und gewinnt zum anderen den optischen Eindruck aus dem Gesamtaufbau der ganzen Seite. Dadurch, daß der Leser somit die Geschichte auf mehreren Ebenen, zwischen denen er nach Belieben hin- und herwechseln kann, wahrnimmt, gewinnt das Ganze an Eindruckskraft und Tiefe - was man den "simplen" Zeichnungen bei oberflächlicher Betrachtung gar nicht zugetraut hätte.

Will Eisner in seiner Einführung zu "Dropsie Avenue":

... Nachbarschaften besitzen Lebensspannen. Sie werden geboren, entwickeln sich, reifen und sterben. Während aber diese Evolution durch den Verfall der Gebäude dargestellt wird, sind die Leben ihrer Bewohner, so scheint es mir, die innere Kraft, die diesen Niedergang auslösen. Menschen, nicht Gebäude sind das Herz der Dinge.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts verlor ein großer Teil von New York, die South Bronx, an Wert und zerfiel. ... Bis 1975 war sie zu einem ausgebombten Gebiet verkommen, mit Schutt übersät und vom Verbrechen überrannt. In den letzten fünf Jahren des Jahrzehnts wurden über 68.000 Brände in der egend gemeldet. Die Industrie zog weg und mit ihr verschwanden über 17.000 Arbeitsplätze. Ungefähr 15.000 Gebäude wurden verlassen. Die Statistiken über Verbrechen, Obdachlose und Verwahllosung waren erschreckend.
Meine Reflexionen über das Stadtleben waren schon lange durch die Beschäftigung mit diesem Phänomen in Anspruch genommen, aber erst 1990, als die New York Times von der Renaissance der South Bronx berichtete, konzentrierte sich meine Aufmerksamkeit darauf.

Meistens bringt mich das dazu, ein Buch zu schreiben.

Inhalt:

Verdammt! Da wird schon wieder ein Haus gebaut! Genau neben unserem Besitz! Bald steht hier eine Stadt!

Aaach! Die verdammten Engländer! Die kaufen alles auf! Bald hat der Name Dropsie hier keine Bedeutung mehr!

... Die Geschichte beginnt um das Jahr 1870 herum, als die vormals nur von wenigen holländischen Familien besiedelte Gegend sich allmählich zu einer Ansiedlung formt. In der Hauptsache Engländer sind es, die sich, mißtrauisch beäugt von den Ansässigen, nun hier niederlassen. Mit der Zeit sterben die holländischen Familien aus. Nunmehr beargwohnen die Engländer die neu hinzuziehenden irischen Einwanderer, denen sie sich überlegen fühlen.

Den Iren folgen die Deutschen, und denen die italienischen Immigranten. Danach kommen die Juden und zum Schluß die Farbigen. Jede Generation von Zuwanderern wird von der vorigen als ungebetene Plage angesehen. Der Stadtteil verfällt zusehends. Die meisten haben kein Geld und können sich kaum die Miete leisten. Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Mißstände, Korruption und Gewalt herrschen; die Dropsie Avenue wird zu einem sozialen Hexenkessel, in dem die Menschen um ihr Überleben kämpfen.

Die Wohnblocks verfallen und werden oftmals in Brand gesetzt, weil es den skrupellosen Geschäftemachern mehr einbringt, hohe, fingierte Versicherungssummen zu kassieren, als die Gebäude instand zu halten und armselige Mieten einzutreiben. Bald besteht die Dropsie Avenue fast nur noch aus leeren Gebäuden ...

Zu guter Letzt scheint eine Wende zum Guten zu kommen: Als auch der letzte Wohnblock dem Erdboden gleichgemacht ist, kauft eine alte Dame, die ehemals in der Dropsie Avenue wohnte und es zu großem Reichtum brachte, den ganzen Bezirk auf und läßt dort schmucke, preiswerte Häuschen errichten. Doch was für Töne muß man schon bald hören ...

He, George ... Gefällt dir das, was
hier in Dropsie Gardens vorgeht?
Was meinst du damit?
Ich zeig's dir ... Kommt mit! Die ziehen in eine gute Gegend wie die unsere und fangen an, alles zu verschandeln! Du wirst sehen, in einigen Jahren sind die Häuser nur noch die Hälfte wert! Dann kommen Leute her, die nicht unserer Klasse entsprechen!

Beginnt nun alles noch einmal von vorn?

Das, was Will Eisner versucht, im Großen aufzuzeigen, die schon fast zwangsläufige Entwicklung zum Niedergang, die sich bereits in den ersten Anfängen abzeichnete, als die Holländer auf die Engländer schimpften, zeigt er an menschlichen Einzelschicksalen bzw. den Schicksalen ganzer Familien auf. Deshalb bleibt seine Sichtweise auch immer nachvollziehbar, glaubwürdig, und verliert sich nicht in abstrakten Dimensionen.

Manch einer mag sich über die allzu plakativ in "gut" und "böse" eingeteilten Charaktere mokieren; die Frage ist, inwieweit das schlicht und einfach Mittel zum Zweck war, um die Aussage durchzutragen. Eisner greift meiner Meinung nach ganz bewußt zum Mittel der Übertreibung, was man auch an den karikaturhaft überzogenen Zeichnungen erkennen kann.

Der Autor:

Will Eisner wurde am 6. März 1917 in New York in unmittelbarer Nachbarschaft zur South Bronx geboren. Schon in jungen Jahren veröffentlichte er Zeichnungen in diversen Schülerzeitungen. 1936 entstanden seine ersten professionellen Arbeiten für "Wow, What a Magazine!". 1937 gründete er ein eigenes Studio, in dem auch diverse andere Autoren und Zeichner tätig waren, unter anderem Bob Kane ("Batman") und Jack Kirby ("Captain America"). Eisner arbeitete unter verschiedenen Pseudonymen und erfand zahlreiche Comic-Figuren, unter denen "The Spirit" die berühmteste wurde. Die erste Geschichte mit ihm erschien am 2. Juni 1940 in einem von Eisner gestalteten "Weekly Comic Book", einer achtseitigen Beilage zu den Sonntagsausgaben verschiedener Tageszeitungen.

"The Spirit" gehört zu einer der interessantesten Erscheinungen der Comic-Welt. Ein versehentlich für tot erklärter Polizist entkommt aus seinem Grab und verfolgt fortan als "Spirit" Verbrecher aller Art. Weder reich, noch im Besitz von Superkräften, besteht seine "Berufskleidung" nur aus einer kleinen Augenmaske und einem Paar ungewöhnlicher Handschuhe. Da es in vielen Geschichten an ironischen Untertönen nicht fehlt, wirkt er eher wie eine gelungene Parodie auf seine zahlreichen Superheldenkollegen. Wegen der für die damalige Zeit geradezu revolutionären "kinematographischen" Bildersprache wird "The Spirit", von dem jede Woche eine siebenseitige Story erschien, von vielen Fachleuten als eine der bemerkenswertesten Serien der Comic-Geschichte bezeichnet.

Als Eisner 1942 eingezogen wurde, überließ er seine Serie Jack Kirby, Joe Simon und anderen, zeichnete sie aber nach seiner Rückkehr 1946 bis 1952 wieder selbst. Zu Beginn der 50er Jahre gründete er die American Visual Corporation und arbeitete seitdem hauptsächlich in der Werbung. Ende der 60er Jahre erwachte bei einigen Verlagen erneut das Interesse am "Spirit", und Eisner, der so klug war, die Rechte an seiner Figur niemals aus der Hand zu geben, veröffentlichte seine alten Geschichten, zeichnete aber auch neue Abenteuer. In den 80er Jahren wandte sich Eisner noch einmal den Comics zu. Ohne neue Serienhelden zu erfinden, widmet er sich in seinen neueren Werken Themen wie dem Verfall der Großstädte oder den Formen der modernen Kommunikation.


Dropsie Avenue
Will Eisner
Feest Comics, Stuttgart 1999
170 Seiten, sw., Softcover, 21 x 29 cm
ISBN 3-89343-239-6